Protokollartige Zusammenfassung der 5. Sitzung 1. Zum Gewissensbegriff Mit Hilfe zweier Lexikonartikel (Brockhaus und Meyer) verschafften wir uns einen Einblick in den traditionellen und wissenschaftlichen Gewissensbegriff. In der (christlichen) Tradition wird unter Gewissen die Fähigkeit angenommen, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können oder unfehlbar das Sollen des Guten und Meiden des Bösen (oder Gebot des Guten und Verbot des Bösen) vernehmen zu können. Dieser Gewissensbegriff ist grundsätzlich und nicht konkret und hatte den Namen syneidesis oder synderesis (griech.: Gewissen). Auf dieser Gewissens-Grundlage, d. h. das Gute wollend und meinend, könne das Gewissen als conscientia konkrete Entscheidungen zum sittlich richtigen Handeln vollziehen. Conscientia (lat., wovon Gewissen die Lehnübersetzung ist) heißt Mitwissen und Bewusstsein: das Wort hält fest, dass Menschen wissen können, was sie tun, d. h. verantwortlich handeln können, was eine Bewertung als gut bzw. richtig einschließt (vgl. engl. consciousness). Wissen hängt mit videre (und Veden) zusammen, also Wissen, weil man gesehen hat; Mitwissen hält die Reflexivität menschlicher Lebendigkeit fest (Erfahrung). Zu Immanuel Kant lasen wir, dass er Gewissen in der Tradition der Syneidesis versteht und als Vermögen des transempirischen Subjekts festhält (während das empirische Subjekt Kants ganz den Kausalketten unterworfen ist). 1 Die Theorieannahmen der Gewissensbegriffe werden seitens der empirischen Individuen durch die Erfahrung bestätigt, dass es die Anforderung an sich selbst (gern als innere Stimme gekennzeichnet) gibt und bei Versagen den Gewissensbiss und oder Schuld(gefühl). Wissenschaften sehen dieses Phänomen als Ergebnis von Erziehung und Sozialisation sowie als Phasen der psychischen und kognitiven Entwicklung. 2. Zu Gewissensbegriff und Gewissensprüfung nach dem KDV-Gesetz bzw. -verfahren Die politische Entscheidung zur Wiederbewaffnung – gegen große Widerstände in der Bevölkerung – schloss die politische Entscheidung zur allgemeinen Wehrpflicht ein. Bei einer Entscheidung zum Berufssoldatentum wäre ein Verweigerungsproblem nicht aufgetaucht. Eine politische Entscheidung hätte auch ein Wahlrecht zwischen Kriegs- und Zivildienst einrichten können. Die Wehrpflicht erzeugte also einen Zwang, dem sich niemand durch eine politische Entscheidung entziehen kann. Der GG-Artikel 4, welcher die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit regelt, ermöglicht in seinem Absatz 3 [„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“] eine moralische Entscheidung gegen den Kriegsdienst. Dies hatte zwei wesentliche Konsequenzen: Politik und Recht mussten erstens den Gewissensbegriff klären und zweitens darstellen, wie ein Gewissensentscheid geprüft werden könne. Wie schwierig, wenn nicht unmöglich das ist, zeigen die Textauszüge von .... aus .... Wir haben Zweifel angedeutet, ob es möglich sei, an einer anderen Person eine Gewissensprüfung vorzunehmen. Gegenwärtig scheint das KDV-Verfahren formalisiert zu sein (seit dem Einigungsgesetz vom 3. Okt. 90): die Gewissensprüfung wird an Hand eines schriftlichen Antrags mit Begründung vorgenommen. Der Antrag muss zwei Essentials enthalten: die Berufung auf Artikel 4, Abs. 3 und die glaubwürdig begründete Darstellung, dass (der Zwang), Menschen zu töten, in Gewissensnot bringe. Wenn die schriftliche Begründung widersprüchlich oder sonstwie unglaubwürdig ist, z. B. nur politische Begründung enthält, wird das Verfahren durch eine mündliche Gewissensprüfung erweitert. Hier muss dann widerspruchsfrei dargestellt werden, dass Töten von Menschen in schwere Gewissensnot bringen würde. Hier treten dann die Themen Tyrannenmord, Freundin bedroht etc. auf. In der Diskussion bezweifelten einige Teilnehmer, ob jemand anerkannt würde, der zugibt, den potentiellen Mörder der Freundin zu töten und zugleich von großer Gewissensnot als Folge spreche. Auszug aus einem KDV-Antrag (Berufung auf Art. 4,3 GG ging voraus) Begründung meines Gewissensentscheids Am Ende der im ersten Teil genannten Entwicklung stand meine Gewissensüberzeugung fest, dass ich mich niemals an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligen könnte, weil sie fremdes Menschenleben aufs Spiel setzen. Nach meiner Gewissensprüfung ist Töten von Menschen sittlich unerlaubt, auch wenn es vielmals geschehen ist und geschieht. Dass es soviel angeblich gerechtfertigtes Töten gibt, kann meines Erachtens kein Grund sein, nicht auf sein Gewissen zu hören, das nach meiner Überzeugung jedem Menschen sagt, dass er nicht töten soll. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht für mich unverrückbar fest, dass ich in höchste Gewissensnot geriete, wenn ich zur Waffe zu greifen und zu irgendeinem Kriegsdienst gezwungen würde und im Kriegsfall Menschenleben töten müsste. Mein Gewissen sagt mir unbeirrbar, dass Menschenleben „heilig“ ist. Dies meine ich nicht allein in einem religiösen Sinn, sondern in dem Sinne, dass es nach meinem Gewissen keinen Menschen und keine Institution geben kann, die mir die Rechtfertigung gäben, Menschen zu töten. Dies bedeutet für mich die ausnahmslose Absage an jeden Krieg oder jede kriegerische und kriegsähnliche Auseinandersetzung. Ich habe zwar Achtung vor Soldaten, die ihren Dienst bei der Bundeswehr versehen und ihn für Friedensdienst halten, aber ich kann deren Meinung nicht teilen. Natürlich verachte ich gerade aufgrund meiner pazifistischen Einstellung diese Menschen nicht, ich kann aber ihre Einstellung aus meinen dargestellten Gewissensgründen nicht für sittlich gut halten. Dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, vom Anfang bis zum tödlichen Ende, bestätigt mir meine Gewissensüberzeugung. Außerdem halte ich die Kriegsrüstung für unverantwortlich kostspielig und bin der Meinung, dass die Mittel besser für Hungerhilfen und andere Förderungsinstitutionen verwendet werden müssten. Josef Fellsches, Lebenkönnen. Von Tugendtheorie zur Lebenskunst Essen, Verlag die Blaue Eule, 1996 Themenstellung: „Lebenkönnen“ ist die Neufassung einer Tugendtheorie für die Gegenwart und die nahe Zukunft. Die Aufforderung „Mach’s gut!“ erhält hier eine tragfähige Begründung, indem die traditionellen Tugenden umgeschrieben bzw. aufgehoben werden zu Haltungen, die für gute Lebensführung bedeutsam sind. Als Merkmale einer Haltung, die Tugend heißen kann, werden herausgestellt: Wissen, Leistung, Können, das Menschenmögliche, Selbstverbindlichkeit und Freude. Das Buch setzt sich auch mit dem Problem auseinander, dass die bürgerlichen Tugenden bis in die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie hinein der Herrschaft dienstbar geworden sind. Bewusstheit tritt deshalb an die erste Stelle der ehemaligen Kardinaltugenden und sogenannte Sekundärtugenden werden nicht in Anspruch genommen. Als neue Bereiche von Haltungen für eine gute Lebensführung als Lebenskunst werden dargestellt: Grundhaltungen (Trauen, Hoffen, Lieben), Haupthaltungen (Bewusstheit, Klugheit, Gerechtigkeit, Standhalten), Zusammenleben (Solidarität des Lebens, Gewaltverzicht, Verzeihen, Opfermut), Bürgersinn (politische Aufmerksamkeit, Beteiligung, Anteilgabe, Gegenseitigkeit). Aus dem Inhalt: Das Buch hat einen systematischen und einen lexikalischen Teil. Teil 1 Grundlagen: Warum Menschen Tugend haben können. – Wie Gesellschaft und Staat sich Tugenden dienstbar machen. – Lebenskunst: Welche Haltungen für gute Lebensführung bedeutsam sind. Teil 2: Artikel zu über neunzig Stichwörtern. Es folgen die „Zugänge“ aus dem Buch. Zugänge Von Tugendtheorie zur Lebenskunst Der Titel enthält, dass dieses Buch von einer Tugendtheorie zur Lebenskunst handelt, dass jemand von einer Tugendtheorie zur Lebenskunst gelangen kann und dass hier eine Tugendtheorie zu einer Theorie von Lebenskunst fortgeschritten ist. Zugang 1: „Na wie geht's denn bei euch?“ „Super. Alles läuft wie von selbst.“ „Gratuliere!“ – Und ein breites Lächeln der Zufriedenheit liegt auf dem Gesicht des Aus­kunftgebenden. Warum auch nicht? Zu erleben, wie in aller Frühe eine Großstadt in Bewegung gerät, kann ein belebendes Gefühl vermitteln: die Bewegung der Fahrzeuge – selbst das Stop and go –, die vollen Bahnen, Schülerströme, Arbeiter am Betriebstor im Auto und zu Fuß, Kaufhäuser im Moment der Öffnung, in Bürohäuser tritt wieder Leben ein, in Krankenhäusern beginnt der Tagesdienst. Alles ist organisiert. Der Improvisationsspielraum ist gering, kleines Reper­toire und Routine genügen. Institution, Funktion, Position, Rolle, Verhal­tensmuster sind die soziologischen Termini, die den Ablauf betreffen, Pro­duktion und Reproduktion die ökonomischen, die den Bewegungsgrund nennen; die allwaltende Herrschaft ist so gut wie unsichtbar: Gesellschaftsprozess. Die Bewegungsmetaphern wie Prozess, Fluss, Zirkulation und Pro­gression sind eine ferne Erinnerung daran, dass es ohne die Lebendigkeit der Menschen nicht geht. Aber die Lebendigkeit ist geformt, was dazu führt und darin zum Vorschein kommt, dass alle in bestimmten wechselseitigen Erwar­tungen und Erfüllungen handeln. So geht das den ganzen Tag. Die Freizeit nach Feierabend und am Wochenende und auch die Nächte sind anders be­stimmt, aber ebenfalls ritualisierter Gesellschaftsprozess. So lässt sich leben. Solange die Geschäfte laufen, das Ein- und Auskommen stimmen, sich alle an Anstand, Vorschrift und Regeln halten, ist die Welt in Ordnung: die Ord­nungs- und Lebensebene von Legitimität und Anstand. In dieser Ordnung sind Tun und Lassen geregelt: durch Gesetz und Recht, Gebote und Ver­bote, Normen, Konventionen und Bräuche, durch Institutionen und ihre Ri­tuale. Die Kontrolle läuft über Belohnung und Strafe, in der Arbeitswelt über die Lohnabhängigkeit und den Behalt des Arbeitsplatzes. Dies sind Lebensbedingungen wie die einer Landschaft und Klimazone. Der Vergleich ist üblich, denn die Einzelnen haben sich die Bedingungen so zu eigen gemacht und verinnerlicht, dass sie ihnen ganz natürlich vorkommen können. Sozialwissenschaften sprechen auch von zweiter Natur. Kinder eignen sich die Verhältnisse schon „mit der Muttermilch“ an. Tat­sächlich, ob Muttermilch oder Flasche, in welcher Haltung verabreicht oder geschenkt, in welchem Stress oder in welcher Liebe, das schafft an der Psy­che des Kindes. Kinder und Heranwachsende werden in den Gesellschaftsprozess integriert: Sozialisation. Erziehung und Bildung und ihre ebenfalls organisierten Institutionen versuchen Einfluss zu nehmen. Die Lebendigkeit der nachwachsenden Generationen ist widerspenstig und nimmt selbst Einfluss, experimentell, problemlösend und subkulturell in Formen und auf We­gen, die die Älteren bisweilen schrecken. Zu bedenken bleibt: die vergesellschafteten Einzelnen sind keine Automaten, aber ihre Lebensführung ist genormt und typisch, Distanz zu den Normen ist selten. Die meisten Menschen leben so, vielleicht ein Leben lang, und auch das gibt den Verhältnissen Beharrungsvermögen. Wenn nur wenige anders handeln und leben, ist das nicht ohne Wirkung auf die Mitmenschen und unter Umständen auch gesellschaftlich und politisch belangvoll. Aber so schnell stellen die Einzelnen das, was gilt, nicht in Frage. Oft müs­sen Krisen und Krankheiten kommen oder schwere Entscheidungen anste­hen, ehe eine Besinnungspause eingelegt wird. Der gewonnene Abstand kann zu der Einsicht führen, in wie hohem Maße das eigene Leben fremden Geltungsansprüchen gefolgt ist. Vielleicht stellt sich jemand bewusst die Frage, ob er oder sie alles so weitermachen oder was für ein Mensch er bzw. sie werden will. Mit diesem Selbstanspruch zur persönlichen Lebensführung begibt sich jemand in den Bereich dessen, was Tugend genannt werden könnte. Für das bloße Dahinleben genügt es, sich zu ernähren und mit den Veränderungen um sich herum Fertigzuwerden. Das kann glücken. Zum Ge­lingen eines möglichst selbständigen und unabhängigen Lebens empfiehlt es sich, das Menschenmögliche ins Auge zu fassen: Tugend als Lebenskunst. Dazu gehört Risikofreude und Eigenständigkeit. Wer lieber ganz auf Sicher­heit geht oder froh ist, wenn andere für ihn oder sie entscheiden, für den oder die ist dieser Anspruch zu hoch. Zugang 2: Bereits nach einigem Nachdenken über Lebensführung kann aufleuchten, dass wir uns immer schon in einer Moral befinden, und es kommt klar her­aus, was Moral ausmacht. Aufgrund der Sozialisation handeln wir meistens so und nicht anders, obwohl wir es auch anders könnten. Wir gehen still­schweigend davon aus, dass so zu handeln gut und richtig ist, ja, wir sind da­von überzeugt. Das ist das erste Phänomen dessen, was Moral ausmacht. Immer ist eine bestimmte Weise, wie man etwas zu tun hat, in Geltung: wie es sich gehört. Man kann auch sagen, dass jede Praxis eine Bewertung ent­hält. Anders kann es nicht sein, weil das zu menschlicher Natur geworden ist. Jede/r wird also immer in eine bestimmte Moral sozialisiert und zu einer bestimmten Moral erzogen. Diese Ebene wurde im Zugang 1 die Ebene von Legitimität und Anstand genannt. Tugend als Lebenskunst beginnt da, wo jemand seine Lebensführung selbst in die Hand nimmt. Das entdeckte Phänomen hat noch einen zweiten Aspekt für das, was Moral ausmacht. Es so und nicht anders zu machen, enthält Verbindlichkeit; wie man es macht, ist der Beliebigkeit und der Willkür entzogen. Und in der traditionellen Moralphilosophie wird als höchste Verbindlichkeit ein unbe­dingtes Sollen angenommen. Dieses Sollen gelte bedingungslos und für alle, also ohne Ausnahme einer Person oder Situation. Eine solche rigorose Ver­bindlichkeit ist nicht aus dem Leben gegriffen, sondern sie wurde und wird entweder durch Gottes Gebot begründet oder mit Immanuel Kant durch die transzendentale Vernunft, d. h. menschliche Vernunft ermögliche allen Men­schen, unbedingte Pflichten zu vernehmen. Auch diese Ermöglichung ist nicht Bestandteil des gelebten Lebens, sondern etwas nur Gedachtes wie ei­ne Idee oder ein Ideal oder ein abstrakter Wert; im konkreten Leben ist alles bedingt, geschichtlich, relativ. Deshalb ist in der Praxis tatsächlich der Ein­zelne selbst letzter Verantwortlicher für sein Handeln und Garant dafür, dass es gut ist. Die Tradition der Philosophie und Theologie enthielt dieses Mo­ment trotz unbedingter Geltungsansprüche auch, nämlich in der Gewissens­theorie. Das Gewissen galt als proxima ratio, die dem einzelnen Menschen nächste Vernunft. Diese Feststellung mindert vielleicht den Schrecken da­vor, dass die vorliegende Tugendtheorie für Lebenskunst nicht nach einem unbedingten Sollen fragt, sondern Haltungen empfiehlt; dies nicht in Kon­kurrenz zu normativer Ethik und Wertethik, sondern als lebenspraktische Ergänzung. Viele setzen gegenwärtig darauf, unbedingte Normen und Werte in Erinnerung zu rufen, weil diese sogenannt „objektiv“ gelten. Sie plädieren für ihre Verbreitung und für eine Erziehung „zu“ ihnen, weil dadurch Kor­ruption, Verbrechen und Gewalt in der Welt gemindert werden könnten. Das ist aber ein Trugschluss. Verbrechen an Menschen und Menschlichkeit sind im Namen hoher und höchster Werte begangen worden, durch die ganze eu­ropäische Geschichte hindurch. Bezüglich der Verbrechen sind zuerst politi­sche und soziale Fragen zu stellen und zu beantworten: nach Macht, Herr­schaft und Gewalt, nach sozialen Ungerechtigkeiten und nach Sozialisation. Die vorliegende pädagogische Tugendtheorie empfiehlt sich für persönliche Lebensführung, die durchaus soziale und politische Wirkung haben kann, sie empfiehlt sich aber nicht als Theorie zur Heilung der Welt. Derzeit werden Tugenden wieder herbeigerufen, weil ein Gemeinwesen nicht ohne sie auskommen könne; unter anderen Bezeichnungen wurden sie schon lange weitergenutzt, um gesellschaftliches Funktionieren zu ermögli­chen und staatlicher Herrschaft Bestand zu geben. In der Alltagskommuni­kation und in wissenschaftlichen Theorien wird zwar von Tugenden nicht gern gesprochen, aber alle reden von Tüchtigkeit und Kompetenz, von Fä­higkeiten und Fertigkeiten, von Bewältigung und Kommunikationstechniken, von Durchhaltevermögen und Ausdauer; manche rufen zu Leistungs- und Opferbereitschaft auf. Eine Tugendtheorie muss also einen scharfen Blick auf die gesellschaftliche Funktion von Tugend werfen. Die bürgerliche Gesell­schaft hat der Tugenden zur vollständigen Durchsetzung ihrer Herrschaft bedurft. Kann das für diese historische Phase noch als für den Gattungsfort­schritt notwendig erachtet werden, so doch die herrschaftliche Verbürgerli­chung der Tugenden durch ihre Indienstnahme nicht mehr. Ordnung hieß die Muttertugend, und Disziplin galt als eine Tugend der Ein- und Unterord­nung. Sie wurde zum Gehorsam in bestimmten Funktionen. Die sogenannte Selbstdisziplin wird in diesem Buch zu Selbstkultur und Treue zu sich selbst aufgehoben: persönliche Anstrengungen, wachsam einen eigenen Weg zu gehen und die Mühen der Bildung des eigenen Selbst durchzuhalten. Die Indienstnahme der Tugenden erreichte ihren Höhepunkt durch die national­sozialistische Herrschaft. Im Konzentrationslager Dachau sind Tugenden „als Weg zur Freiheit“ in großen Lettern auf die Dächer des Wirtschaftstrak­tes geschrieben worden (vgl. Kapitel 4). Der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre versucht in seinem Buch „After Virtue. A Study in Moral Theory“ (1981) die moralische Krise der Gegen­wart dadurch zu kennzeichnen, dass er in ihr den „Verlust der Tugend“ er­kennt. Wir leben „after virtue“ und in dessen Konsequenz in der Unfähig­keit, sagen zu können, was es heißt, gut zu leben. Ich verdanke dem Buch von MacIntyre inhaltlich sehr viel, aber auch die Ermutigung, doch einen Versuch zur Tugendtheorie in Angriff zu nehmen. Solch ein Vorhaben geht also über MacIntyre's Buch hinaus, insofern nicht allein dargestellt wird, wie Menschen in der Geschichte des westlichen Denkens und Handelns mit dem Tugendbegriff umgegangen sind, sondern auch, wie ein Versuch zur Be­gründung einer Tugendtheorie heute aussehen könnte. Kein geringes Vorha­ben, denn es bedeutet, die bürgerliche Tugendauffassung umzuschreiben. Dieser Versuch wird hier unternommen, als Diskussionsbeitrag und viel­leicht als Anregung, die vorgelegte Neufassung zu erproben. Zugang 3: Bezüglich des Wortes Tugend bestand die Frage, ob ich es überhaupt beibehalten sollte. Wozu der Tugendbegriff geworden war, das will dieses Buch gestorben sein lassen, und wozu mit den Tugendnamen wieder appelliert wird, das will es nicht vertreten. Besonders die ältere Generation mag von Tugend nichts mehr hören, weil der Tugendbegriff völlig verengt worden war. Ältere Menschen hören bei der Rede vom „Verlust der Tugend“ die Redensart vom „Verlust der Unschuld“ heraus. Um die Jahrhundertwende war Tugend zu einem anderen Wort für sexuelle Zucht oder Keuschheit geworden. Die „kindliche Unschuld“ ging mit dem Begehren des sexuellen Genusses verloren, Tugend und Keuschheit mit seinem Vollzug. Nur die unverheiratete Frau hatte ihre Tugend nicht verloren, wenn sie sich mit keinem Mann eingelassen hatte. Sie – die Jungfrau gebliebene – erhielt den Spottnamen Jungfer oder „Juffer“, was nicht nur Zeugnis ist für die enge Auffassung von Tugend, sondern auch für die Verachtung der unverheirateten Frau seitens der Männerwelt und eine völlige Außerachtlassung der Möglichkeit, dass eine Frau gerade durch die Nichtheirat ihrer Unterwerfung entging. Aus dieser Situation wird verständlich, dass Max Scheler seinen Aufsatz zur „Rehabilitierung der Tugend“ (1915) mit dem Hinweis eröffnet, die Tugend gelte als „alte keifende, zahnlose Jungfer“2. Die mittlere Generation denkt mit Schaudern daran, mit wie viel vermeintlicher oder tatsächlich überzeugter Tugendhaftigkeit sowohl die Schreibtischtäter als auch die Vollstrecker die deutsche Ermordung der Juden in Europa vollzogen haben. Und die Jüngeren, die ihren Weg machen wollen, denken bei Tugend an Erziehung zu Anstand, Ordnung, Fleiß und Sauberkeit, an Gehorsam, Bravheit und Gängelung. So könnte der Versuch einer Tugendtheorie schon dadurch in Misskredit geraten, dass das Wort Tugend überhaupt noch oder wieder gebraucht wird. Diejenigen Leserinnen und Leser, die bereits angesichts des Wortes „Tugend“ einen Widerwillen oder gar Ekel verspüren, sei Verständnis entgegengebracht und vorwegnehmend bemerkt, dass ich in Kapitel 5 zu erörtern versuche, ob nicht das Wort „Haltung“ an die Stelle von „Tugend“ treten könne. Inwiefern aber auch das Wort Haltung belastet ist, wird ebenfalls zur Sprache kommen. Der Hauptgrund, warum dennoch zunächst das Wort Tugend aufgegriffen und sein Begriff neugefasst wird (Kapitel 1), statt z. B. nur von Selbstanspruch oder Lebenskunst zu sprechen, ist, dass in Tugend wie in keinem Ersatzwort ein Verbindlichkeitsanspruch mitschwingt, der für einen neuen Tugendbegriff als Selbstverbindlichkeit vonnöten ist. Vielleicht hat der vorläufige Umgang mit dem Wort Tugend aber auch einen Vorteil: es ist schon so fremd geworden, dass es geradezu Neugier und Interesse dafür wecken könnte, was denn da noch zu sagen wäre. Und die für Tugend unerwartete Verbindung mit Lebenskunst und Lebenslust ist vielleicht das erste, was aufmerken lässt. Diese Verbindung will deutlich machen, dass mit dem neuen Tugendbegriff die im wörtlichen Sinne einmalige Chance gemeint ist, sein Leben ernsthaft und lustvoll zugleich in die eigenen Hände zu nehmen. „Lebenslust“ und „Lebenskunst“ nehmen Bezug auf die menschliche Lebendigkeit, die in der spezifischen Einheit von Leben, Erleben und Lebenführen besteht. In dieser Lebendigkeit sein Leben in die Hände zu nehmen und zur Lebensführung Haltungen als Werkzeuge zum Gelingen zu gebrauchen, ist die Perspektive dieser Theorie. In einer früheren moralpädagogischen Arbeit „Moralische Erziehung als politische Bildung“ war eine andere Perspektive leitend: wie moralische Erziehung zugleich das politische Ganze ins Auge fassen und einen Beitrag zur Besserung der Verhältnisse vorbereiten kann3. Diese Perspektive wird mit der vorliegenden Arbeit nicht für ungültig erklärt, aber der Blick geht auf die Einzelnen, wie sie ihr Leben gut machen können. Der Perspektivenwechsel ist sozusagen ein Gebot der Stunde. Aus dem nun vorgenommenen Blickwinkel treten die gesellschaftlichen Verhältnisse zunächst als die Gegebenheiten in Erscheinung, in denen die Einzelnen versuchen müssen, ihr Leben gut zu machen. Gesellschaft geht dem Einzelnen voraus, in Geburt, Aufzucht und Sprache, ökonomischem und politischem System, im Rechts- und Moralsystem. Gesellschaft ermöglicht aber auch Freisetzung in die Selbst- oder Mitbestimmung, zu der Tugenden wie Werkzeuge sind. Eine Tugendtheorie aus Liebe zum Leben hätte einen illusorischen Lebensbegriff, wenn sie übersähe, in welchem Maße konkretes Leben gewaltsam ist und das eigene froh bejahte Dabeisein an Verhältnissen teilhat, die nicht nur, aber auch gewaltsam sind. Der Impuls der Lebenslust speist sich zwar aus der leibhaftigen Lebendigkeit des Einzelnen, aber diese lebt bereits in und verkörpert sich innerhalb von Verhältnissen, die nur durch Gewalt errichtet wurden und nur mit Gewalt aufrechterhalten werden. Auf den Zusammenhang von Leben mit Liebe und Macht wird das zweite Kapitel eingehen. Dass in diesem Buch von menschenmöglicher Lebensführung aus eigenem Anspruch die Rede ist, betrifft also etwas moralisch Bedeutsames, plädiert aber nicht für die herrschende Moral. Wie aus Zugang 1 hervorgeht, meint menschenmögliche Lebensführung aus eigenem Anspruch eine Ebene, die die Ebene der Legitimität und des Anstands überschreitet, was nicht heißt, dass auf der selbstbestimmten Ebene inhaltlich immer etwas anderes getan werden muss als auf der ersten, es ist aber immer eine neue Bewusstheit da. Der Begriff Lebenskunst wird bewusst in die vorliegende Theorie aufgenommen, nämlich in der Bedeutung, ein gutes Leben führen zu können. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Lebenskunst fast nur im genießerischen Sinn verwendet oder im Sinne des wohlhabenden Glückspilzes, der unverdient auf der Sonnenseite des Lebens steht und es sich gut sein lässt. Im Sinne des Menschenmöglichen wird dem in diesem Buch ein Begriff von Lebenskunst gegenübergestellt, der die gekonnte Leistung der Bemühungen umfasst, ein gutes Leben zu führen und dadurch sein Selbst zu bilden (Kapitel 5). Zugang 4: In diesem Buch ist viel von Leben die Rede, es geht ja darum, gut zu leben oder ein gutes Leben zu führen. Jede/r steht im Leben und wird aus dieser Erfahrung ein Verständnis dafür haben, dass von Leben die Rede ist, und etwas verstehen, wenn von Leben die Rede ist. Aber was genau ist mit Leben gemeint? Leben ist doch so vielseitig, es umfasst Atmen, Essen und Arbeiten, Wohnen und Schlafen, Lieben und Streiten; es umgreift Spüren und Fühlen und Denken; Stimmung, Gesundheit, Krankheit und Sterben gehören zum Leben, ebenso Lernen und Bildung, Veränderung und Wandlung. Menschliches Leben ist einzeln und zugleich Mitleben, es ist individuell und zugleich gesellschaftlich und vergesellschaftet. Es ist ein Prozess in der Zeit, innerhalb dessen es Gegenwart nur im Erleben gibt, nicht physikalisch. Der Prozess ist unvorhersehbar, unberechenbar und unvoraussagbar. Auch im bewusstesten Leben können wir oft nur reagieren auf das, was zustößt, sich ergibt, passiert. Wie kann man das alles auf einen Begriff Leben bringen? Der Grund liegt darin, dass die Einzelnen mit Fug und Recht von ihrem Leben sprechen können, das sie selbst als eigenes erfahren. Genau das ist gemeint, wo in diesem Buch von Leben die Rede ist: der tätige Gesamtprozess des Einzelnen; sein Leben und Erleben als Tun ist zuerst gemeint, nur selten das Hauptwort „das“ Leben, denn die Substantivierung könnte irreführen und etwas Dingliches als das Leben suchen lassen oder das, woraus und worin es im Grunde bestünde. Dieser Versuch wird hier nicht gemacht. Was Lebendigkeit und das Leben insgesamt sind, das ist wissenschaftlich nicht umfassend zu klären und auch philosophisch nicht unproblematisch zu denken. Wissenschaften müssen sich mit einzelnen Aspekten begnügen, von denen sie annehmen, dass sie zum Leben gehören, und die Aspekte zusammen klären immer noch nicht, was Leben ist, obwohl sie quantitativ längst das dem Einzelnen Fassbare übersteigen. Leben als Tun der Einzelnen und das Leben als Ganzes philosophisch zu denken, ist rational auch nur eine Annnäherung, jedenfalls wenn Philosophie sich nicht zu weit von Einzelwissenschaften entfernen will. Ein einzelnes Leben lässt sich als der erlebbare Prozess menschlicher Lebendigkeit innerhalb eines Gesamtprozesses fassen, den man äußerst weitgreifend auf die Begriffe Natur-, Gesellschafts- und Bewusstseinsgeschichte bringen kann. Es gab philosophische Versuche, die „Leben“ zum Zentralbegriff ihres Denkgebäudes machten und es dazu dingfest oder wenigstens gedankenfest zu machen versuchten: die sogenannten Lebensphilosophien. Diese Versuche werden hier nicht fortgesetzt, auch wenn man den Inhalt des Buches in freier Verwendung des Begriffs eine Lebensphilosophie nennen könnte, dann aber bezogen auf die Frage, wie man sein Leben gut macht. Gegenüber den genannten Lebensphilosophien aber wird hier die Auffassung vertreten, dass sie allzu spekulativ sind und an den Grenzen der Erfahrung scheitern müssen. Der in diesem Buch angesprochene Lebensbegriff (das Verb „leben“) meint etwas die Erfahrung Betreffendes, keine mysteriöse Allmacht, die als „Leben“ hinter allem stünde. Die Erfahrung betrifft Leben, Erleben und ein Leben führen. In diesem Einklang wird der einzelne Mensch als Leib- und Lebewesen ernst genommen. Zugang 5: Tugenden sind der Inbegriff des Lebenkönnens, eines gekonnten Lebens. Sie sind zuallererst nicht als Ideal, als Werte oder Normen und Vorschriften aufzufassen, sondern als gelebte Haltung und Leistung. Ihre Beschreibung ist nicht zuerst Anleitung oder Maßgabe, sondern Aufschluss, bestenfalls Wegweisung; den Weg muss jeder selbst im Gehen finden. Das Lernen der Tugenden auf ihrem Weg ist ein Gewahrwerden und einübendes Tun. Tugendtheorie dient dem Gewahrwerden dessen, was es heißt, gut zu leben. Jeder kennt das Lob: „Das hast du gut gemacht!“ Und jeder kennt den Abschiedsgruß „Mach's gut!“ Alle kennen auch den Seufzer und die Klage, dass das Leben nicht gut zu ihm oder ihr sei, dass es übel mitgespielt habe. In diesem Bereich eigener Lebensgestaltung setzt der neue Tugendbegriff an. „Mach's gut!“ Was soll jemand gut machen? Nicht nur die Ausführung einer bestimmten Tätigkeit, sondern der Wunsch meint, dass jemand es insgesamt gut machen möge. Der Wunsch lässt sich vorblickend auf ein ganzes Leben beziehen. Genau auf diese Bestimmung des eigenen Lebens, des eigenen Selbst, beziehen sich Tugenden. Sie ermöglichen als erstes das Gewahrwerden dessen, dass mein Leben von mir gut gemacht wird. Damit wird eine sehr verbreitete Lebensauffassung umgekehrt. Viele warten darauf, dass das Glück zu ihnen kommt, dass sich ihnen die Lebensbereiche und Lebensumstände von sich aus als geglückt und gelungen herausstellen. Der hier vertretene Tugendbegriff dreht diese Erwartung um: das Leben ergreifen heißt, es selbst in die Hände nehmen. Damit verbindet sich die Verheißung, dass dein Leben von dir gut gemacht wird, wenn du dich auf den Weg der Realisierung von Tugenden begibst. In dem Maße, wie dir das gelingt, geht es dir gut, befindest du dich im Wohlsein. Die Verheißung enthält aber auch noch, dass du dich im Maße deines Wohlseins gut zu anderen Menschen verhältst und immer mehr Beziehungen zum Guten wendest. Also gut leben. Heißt das nicht, gut essen und trinken und Freunde haben? In das gute Leben spielt durchaus auch die Freude hinein, die mit Genus, Vergnügen und Geliebtwerden verbunden ist, aber nur hinein, sie ist nicht die Basis des guten Lebens. Die Basis ist vielmehr die freudige Erkenntnis, dass es mir gelingt, mein Leben gut zu machen. Das geht übrigens durchaus über Funktionieren hinaus, ja kann sogar beinhalten, dass ich nicht funktioniere oder auch die Erfolge nicht erreiche, die allgemein hochgeschätzt werden. Gerade dadurch kann ich aber zu der sicheren Überzeugtheit gelangen, es gut gemacht zu haben. Vorläufig genügt es festzuhalten, dass Tugend den Aufschluss gibt, sein eigenes gelungenes Lebensganzes ins Auge zu fassen; die Geschichte des eigenen Selbst wirklich selbst „zu schreiben“, in Selbstbewegung statt im Getriebenwerden durch Funktionen. Ein wahrhaftiges Selbst zu werden, ist also das erste Menschenmögliche, das mir zu Gebote steht: im Sinne einer Möglichkeit, die ich be- und ergreifen muss. Ein wahrhaftiges Selbst zu werden, kann als zusammenfassende Formel für das gute Leben angesehen werden; Tugenden verhelfen auf diesen oder auf diesem Weg. Möglicherweise melden gerade die moralisch aufmerksamen LeserInnen hier ein Bedenken an: Klingt das nicht sehr nach Selbstsuche oder gar Egoismus? Wo bleiben da Altruismus und Nächstenliebe? Ja, es mag beim ersten Hinhören nach Eigennutz klingen, weil wir an die geräuschvolle Eigennützigkeit als Prinzip unserer Marktgesellschaft gewöhnt sind. Wer sich nicht durchsetze und für seine Anteile und seinen Gewinn sorge, der werde scheitern, ganz unten bleiben oder dort an- oder sogar umkommen. Als erste Antwort sei angemerkt, dass Selbstliebe nicht dasselbe ist wie Eigennutz, und dass auch das jüdisch-christliche Gebot der Liebe die Selbstliebe enthält. Tugend ist nicht Eigennutz. Sie müsste unachtsam sein und absichtlich zuungunsten anderer erfolgen, und das ist ein Widerspruch in sich. Mehr dazu in Kapitel 2. Das Wie der Lebensführung fällt also im Kontext dieser Tugendtheorie in den Bereich des Selbstanspruchs: was jemand aus seinem Leben, mit seinem Leben, in seinem Leben machen will und macht. Man kann dieses Bemühen der Einzelnen um ihre Lebensführung also dann Lebenskunst nennen, sowohl im Prozess wie im jeweiligen Resultat, wenn es sich um Bemühen mit höchster Selbstverbindlichkeit handelt. Wenn jemand sagt „Es geht mir gut“, so kann das die Frucht einer guten Lebensführung im selbstverbindlichen Sinn sein. Wenn der Grund aber ein glücklicher Zufall ist wie der Lottogewinn, sagt man nicht „Das hast du gut gemacht!“ Tugend enthält das sittliche Gutmachen, und eine Lebensführung in der Haltung von Tugenden kann als gut im sittlichen Sinn bewertet werden. Wenn man das mitdenkt, kann man von Tugend als Lebenskunst sprechen. Tugend und Tugenden sind also Haltungen, die jemand sich für seine Lebensführung wählt, und das ist hohe Lebenskunst. Woran können sich die Einzelnen denn in ihrer guten Lebensführung halten oder orientieren? Es geht doch nicht, dass jede/r jedes Beliebige auswählt und als gut behauptet. Für die eigene Lebensführung ist ein/e Einzelne/r nicht alleingelassen, sondern im Verbund mit den Menschen, die längst ihr Leben geführt und hierzu gedacht und gelebt haben, was Tugend ist und Tugenden sind. Das ist der Fundus. Er wird in diesem Buch insgesamt systematisch entfaltet, einschließlich des Versuchs, ihn für heute zu aktualisieren, und im lexikalischen Teil wird er im einzelnen dargestellt. Als anthropologischer, historischer und sozialer Gegenstand wird er methodisch nicht anders begriffen und behandelt als Werkzeugentwicklung, Schlafgewohnheiten oder Tanz. So entsteht eine beachtliche Sammlung von menschlichen Errungenschaften als „Irdengut“, also mit dem irdischen Leben verbunden. Denn Tugenden sind praktische Haltungen; sie werden häufig wie Wegweiser aufgefasst, Wegweiser stehen aber auf der Stelle (St. J. Lec). Um im Bild zu bleiben: man kann sich kurzzeitig an ihnen orientieren, aber dann muss man seinen Lebensweg gehen. Als Wegweiser erscheinen Tugendnamen wie Idealitäten, die nur eine Richtung angeben. Dass sie auf diese Weise ideal erscheinen, ist nichts Ungewöhnliches, nicht einmal Spezialität der Moralphilosophie. Auch naturwissenschaftliche Gesetze sind idealiter gefasst: sie sind in bezug auf gedachte störungsfreie oder reine Zustände formuliert, die es im realen Leben nirgends gibt. Real sind Tugenden durch das praktische Tun der Einzelnen, die Bewusstheit und Achtsamkeit, Anteilgabe und Standhalten, Toleranz und Verzeihung üben. Welche Tugenden uns ermöglichen, unser Leben gut zu machen, wissen wir also zunächst durch andere Menschen und dann durch die eigene Erprobung. Wir sind auf die Menschen und die Menschheitsgeschichte angewiesen. Die Geschichte der Menschen, die vor uns zu leben gewusst haben, die darüber nachgedacht, erzählt und geschrieben haben, das ist der Fundus. Was Tugend ist, kann uns nicht von anderswoher gezeigt werden; selbst wo Menschen sich auf Gott, seine Offenbarung, ihr Gewissen oder ihre Vernunft berufen, sind es eben die Menschen, die das Menschenmögliche erprobt haben. Vernunft und Gewissen werden dadurch aktiviert, dass wir aus dem Fundus schöpfen, aber nicht uns Vorschriften machen lassen, sondern die Tugenden in unserer eigenen Lern-, Erfahrungs- und Lebensgeschichte erproben. Insofern wir – wie gesagt – als eigenes Selbst für unser gutes Leben aufkommen müssen, und besonders insofern, als wir nicht in einer Gesellschaft und selten in Gemeinschaften leben, die sich gut zu leben zum Ziel genommen hätten, sind wir tatsächlich allein in unserem Bemühen. Dennoch sind wir menschheitlich und gesellschaftlich vereint mit denen, die das Menschenmögliche eines guten Lebens zu vollbringen versucht und vermocht haben. Der Fundus bietet dieser Tugendtheorie die Möglichkeit, als das Menschenmögliche auch das aufzunehmen, was Religionen und Philosophien über Tugenden als Selbstauslegung des guten Lebens gesagt und gelebt haben. Jede Epoche stellt das Menschenmögliche der Tugenden in ihrem konkreten Kontext dar. Die Epochen wandeln den Fundus an Tugenden dadurch um, dass unterschiedliche Präferenzen vorgenommen werden und dass neue Tugenden hinzukommen. Jedenfalls gilt, dass die Zeiten ihre Tugenden haben und die Tugenden dadurch ihre Zeit. Auch dieser Versuch der Neufassung einer Tugendtheorie hat seine geschichtlich-gesellschaftliche Ermöglichung. Das Rechts-und Sozialsystem ist heute so ausgeweitet, dass viele sich mit einem Leben auf der Ebene 1 begnügen können. Dass die Nationen sich in den Menschenrechten auf die formale Gleichheit aller Menschen verständigen konnten, ist dazu ein historisch bedeutsames Datum. Ungleichheit der Menschen als Lebewesen ist nicht mehr begründbar. Selbst soziale Ungleichheit ist nur noch aus der Unzulänglichkeit von Produktionsweisen und den Eigentumsmarktordnungen zu begründen. Durch die globale Wirtschaft, Kommunikation, Politik und auch Bedrohung liegt ein Denken in Begriffen von Menschheit und Weltbürgertum näher als eines in Abgrenzungen und Nationalismen. Das Leben läuft immer schon in der Ordnung von Legitimität und Anstand ab, innerhalb konkret herrschender Werte und hochgehaltener abstrakter Idealitäten. Gesetz, Recht und Konsum bestimmen die Ebene der Moral, in die alle Nachwachsenden integriert werden. Aber die normative Wucht der traditionellen Lebensordnung, die durch Anstand, Stand und Stände, durch Kirche und Obrigkeit geleitet war, hat sich doch so weit relativiert und aufgelöst, dass Freiheit und Notwendigkeit zu eigener Bestimmung möglich wurden. Demokratisierung, Technisierung, Egalisierung und Individualisierung, die Verdienstlichung der Arbeit sowie die Verkürzung der Arbeitszeit einschließlich der Arbeitslosigkeit und schließlich die Angebote in ihrer Qualität von Warenhaftigkeit und Fülle haben Bedingungen geschaffen, die sowohl ein Leben in bloßem Tausch und Konsum wie auch eine bewusste Lebensführung ermöglichen. Mit dieser Entwicklung ging der Wandel zu einem moralischen Bewusstsein einher, das kein transzendentes oder transzendentales Du-Sollst annimmt, sondern selbst bestimmen will, was gut und richtig ist. Zu irgendeinem Zeitpunkt des Erwachens stellt sich jemand die Frage nach eigener Lebensführung. Für die dann ansetzende Wandlung will diese Tugendtheorie eine mögliche Begleitung sein. Dabei ist sie keine Anleitung für AnwärterInnen auf Heldentum und Heiligkeit – die stehen freilich dennoch jeder und jedem offen –, sondern sie will als Theorie für Lebenskunst lediglich zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Chance eines Selbstanspruchs anleiten und zum Versuch seiner Realisierung. Sie wendet sich also an Menschen, die Erwartungen an sich selbst haben oder die sich zum ersten Mal mit der Frage herausfordern, was sie werden wollen. Normative Ethik versus Pädagogische Ethik als Lebenkönnen Am Beispiel der Kontroverse Josef Fellsches und Gunnar Heinsohn zum Sinaigebot „Du sollst nicht morden!“ Schwache Argumente für hohes Anliegen Zu Gunnar Heinsohns Beitrag "Auschwitz ohne Hitler? Die Tafeln des Sinai und Hitlers Drei-Welten-Lehre" in Lettre 33 (erschienen in: Lettre 34, 1996) Die Titelfrage „Auschwitz ohne Hitler?“ betrifft nicht das Hauptanliegen G. Heinsohns. Sie ist nur die Umkehrung von Heinsohns Hauptthese, dass Hitlers persönliches Motiv die Abschaffung des „5. Gebotes“ gewesen sei. Wenn diese These erwiesen wäre, wäre damit die Titelfrage noch nicht verneint. Die Befolgung der „Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei....“ (Th. W. Adorno), erschöpft sich nicht in der Ver­hinderung eines Führers und von „Neo-Hitleristen“, die das „5. Gebot“ abschaffen wollten. Es kommt darauf an, dass Menschen zu einer Haltung finden, aus der heraus sie nicht töten und sich an neuem „staatlich organisiertem Verwaltungsmassenmord“ (Hannah Arendt) nicht beteiligen. Wichtiger als die Titelfrage ist die aktuelle Frage, ob Auschwitz trotz Hitler und seines persönlichen Motivs nicht hätte verhindert werden können. Diese Frage wird nach Daniel Goldhagens Buch derzeit wieder diskutiert. Bedeutsamer als die Titelfrage ist für G. Heinsohns Intention, was er mit seiner Hitler-These bezweckt: er plädiert dafür, dass die „Tafeln vom Sinai“ hochgehalten werden müssten, weil Menschen ohne das „5. Gebot“ einander töten würden wie sie Tiere töten. Ohne das „5. Gebot“ werde „die Willkür der Natur“ herrschen. Heinsohn unterstellt, dass vor diesem Verbot, das er als „universales Tötungsverbot“ auffasst, ein recht- und sitten­loser Zustand geherrscht habe, in welchem Töten von Menschen ad libitum ge­stellt gewesen sei. Offenbar teilt G. Heinsohn Hitlers Idee, durch die Abschaffung des „5. Gebotes“ werde Töten „wieder“ zur Disposition gestellt. Ich möchte im folgenden Argumente zusammentragen, die deutlich machen, dass sich Heinsohns Bemühungen für das Leben und gegen das Töten auf unhaltbare Auffas­sungen stützen und dass er dadurch dem hohen Anliegen einen schlechten Dienst er­weist. Am Ende möchte ich verdeutlichen, welche philosophisch-pädagogischen Be­gründungen und Entwürfe für eine Haltung nötig und beizubringen sind, die für Leben und gegen Töten stehen. 1. Unterscheidung von Moral, Recht und Ethik Heinsohn unterscheidet nicht genug zwischen Moral, Recht und Ethik, er benutzt die Begriffe synonym, als seien sie bedeutungsgleich. Zwar ist es richtig, die moderne Unterscheidung nicht unhistorisch auf die Zeit um 1200 vor unserer Zeitrechnung zu übertragen, aber für das Argumentieren ist die Unterscheidung unerlässlich, weil sonst historische Entwicklungen verkannt werden. Moral ist so alt wie menschliche Praxis, weil Menschen etwas so oder anders machen können; menschliche Praxis enthält notwendig Werten und Wert, sie kann gelingen und misslingen. Religionswissenschaftlich gesprochen – also nicht offenbarungsgläu­big –-, war die religiöse Begründung des So-und-nicht-anders (von technischem So-und-nicht-anders hier abgesehen) das geschichtlich vielleicht unentbehrliche Mittel zur Sanktionierung. Das „So!“ erhielt die moralische Bewertung gut, das Anders die Bewer­tung böse oder schlecht. Im Herrschaftszusammenhang wird aus einem Teil der Moral Recht. Recht ist immer mit herrschaftlicher Sozialstruktur verbunden. Gesellschaftliche Ord­nungen und Staatsbildung werden dadurch zustandezubringen versucht, dass, herr­schaftlich kontrolliert, bestimmtes Verhalten als Recht, anderes Verhalten als Unrecht zur Geltung gebracht und kodifiziert wird. Zu solchen Rechtsordnungen gehört es, festzulegen, wann Töten Recht (und damit recht) und wann Töten Unrecht (unrecht) ist. Solches Recht und solche Rechtsprechung gab es auch im Mongolenreich Dschingis-Khans. Er hat in seinem Staat erfolgreich versucht, per Rechtsordnung (Innenpolitik) gegen die Sippenfehden anzugehen, die er selbst in seiner Jugend erfahren hatte. Seine Feldzüge (Außenpolitik) galten ihm und seinen Kriegern so recht wie den christ­lichen Herrschern und Kriegern die Kreuzzüge. Auch politischer Machtwille, politisches Recht einschließlich des Kriegsrechts bedurf­ten der Begründung, durch Religion, Moral- und Rechtsphilosophie4. Der Begriff Ethik fasst alle Begründungsmöglichkeiten und -versuche zusammen. Seit der Aufklärung und aktuell in der Gegenwart sind die Not(wendigkeit) und die Problematik säkularer, rationaler Moralbegründung schmerzlich erfahrbar geworden. 2. Morden und Töten G. Heinsohn unterscheidet auch nicht genug zwischen Morden und Töten. Morden und Töten sind nicht dasselbe. Das Wort Morden enthält bereits, dass es sich um un­rechtmäßiges Töten bzw. moralphilosophisch um sittlich unerlaubtes Töten handelt. „Heiligkeit des Lebens“ wäre oder ist eine moralphilosophisch zu begründende Norm, die sich gegen jegliches Töten richten könnte. In dieser Radikalität haben Gesellschaf­ten – soweit geschichtliche Auskünfte reichen – das Tötungsverbot noch nie zu be­gründen vermocht, weder religiös, noch moralphilosophisch noch rechtlich. Wohl ha­ben einzelne Menschen und kleine Gemeinschaften eine Haltung eingenommen, die Lebensliebe bis zum Vegetarismus, Pazifismus und auch bis zur Preisgabe des eige­nen Lebens bezeugten. Alles Recht aber und alle Moral, auch alle Ethik anerkennen ein rechtmäßi­ges, sittlich erlaubtes Töten und verwerfen das unrechtmäßige, sittlich unerlaubte Tö­ten (Mord im Gegensatz zu Tötung in Notwehr, zu Kriegsrecht, Tyran­nenmord und To­desstrafe; auch das Aussetzen Neugeborener steht in diesem Zu­sammenhang). Empi­risch ist das Tötungsrecht universal, bis auf den heutigen Tag. Mord dagegen wurde früh unter Strafe gestellt, in Israel, unter Dschingis-Khan, und auch im Nationalsozia­lismus war Mord strafbar. Ethik sind Gedanken, Recht ist Institution. Der Zwang der Argumente und der Zwang der Gesetzesgewalt fühlen sich sehr unterschiedlich an. Individuelle Mordtat und Genozid als staatlich organisiertes Morden (aus der Sicht der Täter legitimes Töten?) müssen unterschieden werden. G. Heinsohn tut dies in seinem Beitrag nicht. Diese Unterscheidung liegt aber auch in der Bibel vor. 3. Das Verbot: „Du sollst nicht morden“ oder „Du sollst nicht töten“? Unwiderlegbar gibt es im Judentum und in seiner Hl. Schrift radikale Aufforderung zu Lebensschutz und Liebesgebot, appellativ formuliert oder in „Du sollst“-Form. Dazu gehört aber nicht der Dekalog, er besteht aus einer Sammlung von Gesetzesformulie­rungen verschiedener Zeiten in zwei Geboten und acht Verboten. Das „5. Sinai-Gebot“ wird in Bibelübersetzungen sowohl mit „Du sollst nicht morden“ als auch mit „Du sollst nicht töten“ wiedergegeben. G. Heinsohn gibt das „5. Gebot“ in seinem Buch „Warum Auschwitz?“5 meist mit „Du sollst nicht morden“ wieder, oft aber auch mit „Du sollst nicht töten“. Für seinen Lettre-Beitrag wählt er letztere Formulierung. Mit dieser „Wahl“ aber bringt er die entscheidende Frage nicht vom Tisch und nicht aus der Welt. Nach exegetischem Befund ist der Austausch von Morden und Töten auch für die Bibel nicht zulässig, und der Dekalog meinte Morden. „Du sollst nicht morden“ klingt tautologisch oder wie die Bekräftigung einer ohnehin bekannten Unzulässigkeit oder Selbstverständlichkeit. Es kann deshalb nur soviel hei­ßen wie: Wer mordet, d. h. unrechtmäßig tötet, soll nicht ungestraft davonkommen. Er wird – je nach Recht – selber mit dem Tode bestraft. Die verchristlichte Formel „Du sollst nicht töten“ kann sich jeder im Wortsinn zu eigen machen, aber kein jüdischer und kein christlicher Staat der Welt hat sie im engen Wortsinn in sein Recht aufgenommen, und auch die Kirchen taten das nicht. Im Lexikon für Theologie und Kirche ist zu lesen: „das V. Gebot meint gesetzloses Tö­ten, also den Mord (u. wird zu Unrecht von Vegetariern, Pazifisten u. Gegnern der Todes­strafe angerufen)“6. Die Bibel kennt mehrere Wörter für Töten. Im Dekalog ist das Verb „rasah“ gebraucht. Es wird im ganzen AT nicht für Töten im Krieg und Töten in Notwehr verwendet. Bei allen Stellen, an denen das Wort auftritt, geht es um unrechtmäßiges und sittlich ver­werfliches, also schuldhaftes Töten. Im Zusammenhang mit der Eroberung Kanaans (Palästina) gebietet Gott den Israeliten, die sieben eroberten Völker zu bannen. Das hier für Töten gebrauchte Wort ist nicht „rasah“ (vgl. Dt 7,2 und 20,17). Auch das bibli­sche Asylrecht (vgl. Dt 4 und 19) unterscheidet zwischen Totschläger und Mörder und schützt ersteren vor dem „Blutlöser“. Das Theologische Wörterbuch zum Alten Testament resümiert: „Die einschlägigen Aussagen wollen das Leben jedes Israeliten schützen. In der nachexilischen Bürger-Tempel-Gemeinde werden auch die Fremden und Beisassen einbezogen (Num 35,15). rasah hat folgende Bereiche nicht im Blick: den Bereich des Krieges und des Bannes oder der sogenannten Vernichtungsweihe, den Bereich der Notwehr und der Selbsttötung. Mord wird durchgehend mit dem Tode bestraft, und rasah kann hierbei die gesetzlich geforderte Vollstreckung des Todesurteils durch den Blutlöser bezeich­nen wie in Num 35,27.30“7. Das Tötungsverbot des Dekalogs verbietet also nur das sittlich verwerfliche Morden. Israel hat ebensowenig wie andere Staaten ein generelles Tötungsverbot rechtlich ko­difiziert. Der Dekalog ist Gesetz im Sinne sozialer Rechtsordnung, er ist Ethik, insofern er als Begründung Gottes Wort angibt, und er zielt auf Moral als Gesetzesgehorsam (ähnlich übrigens das ältere ägyptische Totenbuch um 1550 vor unserer Zeitrech­nung). Dem orthodoxen Judentum sind Religion, Moral und Recht bis heute eine Ein­heit:, das Gesetz, die Thora. „Die hebräische Bibel leitet moralische, rechtliche, kulti­sche Vorschriften ungeschieden von der einheitlichen Willensoffenbarung Gottes her. Auch hebräisch-sprachlich gleich gestaltet sind Bestimmungen, die spätere Reflexion als von unterschiedlicher Art empfindet, wie ‘Morde nicht’ (Ex 20,13) und ‘Hasse nicht deinen Bruder in deinem Herzen’ (Lev 19,17) oder ‘Dann gib Lebenersatz für Leben, Augersatz für Auge’ (Ex 21,23f.), ..... Alles, was später in einzelne Sonderbereiche eines geteilten menschlichen Daseins zerfiel, ist hier in dem Aufruf an das Volk eines ungetrennten Lebens vor Gott zusammengeschlossen“ (D. Vetter 1987, Sp. 732)8. Textkritisch können Gesetzesaussagen und prophetische Worte aber nicht gleich­behandelt werden. Prophetische Worte sind ethik-orientiert, Gesetze sind recht-orien­tiert. Prophetische Reden der Bibel verweisen durchaus auf Lieben und Leben­lassen. Die Idee eines universalen Lebensrechts aber kommt nicht aus dem Dekalog, sondern aus der Aufklärung, und führte tatsächlich erst 1948 zu einer Übereinkunft in der UNO. Mit diesem Befund verliert das Kernargument der These G. Heinsohns seinen Grund. „Hitler verstand sich nicht als Übertreter des jüdisch geschaffenen Tötungsverbots, sondern als sein Überwinder“ (so Heinsohn im Lettre-Beitrag 33, S. 21). Es kann ja sein, dass auch Hitler das „5. Gebot“ als universales radikales Tötungsverbot aufgefasst hat und deshalb auf die absurde Idee kam, er könne durch Vernichtung der Juden (und Chri­sten) ein universales Gebot aus der Welt schaffen. Aber Hitler irrte sich dann zweifach: in der Auffassung des Verbotes und in der vermeintlichen Konsequenz seiner Ausrot­tungsvorstellung. Wenn Hitler sich möglicherweise als „Überwinder einer universalen Ethik der Lebensheiligkeit“ wähnte, so taten er und seine Täter doch etwas anderes: sie versuchten, das Morden zu staatlich legitimiertem Töten zu machen. Damit bestäti­gen sie die Verwerflichkeit des Mordens, sie überwinden sie nicht. Hitler versuchte, das universale staatliche Tötungsrecht zu erweitern und auf den Genozid auszudehnen. Genau das könnte wieder geschehen, sogar durch Übereinkunft (zum Beispiel – schreckliche Vision – durch eine Konvention zur Erhaltung des westlichen Kulturerbes und seines Raumes). Adolf Eichmann und den Auschwitz-Tätern musste in den Prozessen widerlegt werden, dass sie in ihren Legitimationsversuchen, aus Mord staatsrechtliches Töten zu machen, gerechtfertigt gewesen seien. Es musste dargetan werden, dass ihr Gehorsam gegen­über dem Staat und den Befehlenden Unrecht war. (Moralische Schuld konnte gericht­lich ohnehin nicht verfolgt und gesühnt werden.) G. Heinsohn kann also so, wie er es tut, nicht argumentieren, wenn er sich für ein uni­versales Lebensgebot und Tötungsverbot einsetzen will. Es muss eine andere Möglich­keit gefunden werden für die Haltung zum Leben und gegen das Töten, sogar sine lege. Die Lösung liegt in einem ganz anderen Sinne „ante legem“: Lebenlassen und Nichttöten nicht aus Gesetzesgehorsam, sondern aus einer Haltung, die dem Gesetz vorausliegt. Es lässt aufmerken, dass die Formulierung „Du sollst nicht töten“ ohne Aufhebens die geläufige geworden ist. Viele haben sie noch aus dem Religions-Unterricht in Erin­nerung, alle kennen sie irgendwie und irgendwoher. Wie kommt es, dass sich niemand an der Formulierung stößt, obwohl doch von Staats wegen so viel getötet wird. Das kommt daher, dass die Leute hier eine wichtige Unterscheidung vornehmen und leben, nämlich die zwischen Lebenswelt und Politik bzw. Staat. Innerhalb ihrer lebensweltli­chen Orientierung finden sie in dem Satz nur wiederholt, was für sie selbstverständlich ist. Die allermeisten Menschen töten ihr ganzes Leben hindurch keinen Menschen. Es käme für sie gar nicht in Frage, sagen sie spontan; „außer vielleicht in Notwehr“, wird geantwortet, wenn ein Diskurs beginnt. Und im Krieg sei das etwas anderes, da müsse man ja töten. Auf die Frage, warum es denn selbstverständlich sei, nicht zu töten, stellt sich zunächst allgemeine Stutzigkeit ein (auch im Hochschulseminar). Etwa weil Töten verboten ist? Nein, dann wäre das Töten ja, gäbe es das Gesetz nicht, erlaubt. Das kann doch nicht sein. Diese lebensweltliche Orientierung ist ein bedeutsames Zeugnis. Man muss fragen, was ihm zugrundeliegt. Die selbstverständliche Grundhaltung, leben zu lassen und nicht zu töten, verweist auf eine Menschenmöglichkeit, die schon vor dem Gesetz (ante legem) gegeben ist und das Gesetz erst ermöglicht. Es könnte sonst gar nicht eingehalten werden. Der Grund hierfür liegt in der Verfasstheit des Lebewesens Mensch. Nicht töten zu müssen, leben lassen zu können, hat einen anthropologischen Grund, nicht „bloß“ biologischen. Da Menschen nämlich nicht nur leben, sondern immer auch ein Verhält­nis zu sich selbst haben, ist das Lebenlassen zugleich eine Haltung und ein Sinn, also nicht einfach ein Naturvorgang. Wenn Menschen einen anderen töten, dann wissen sie, dass dies gegen eine vorgängige Erfahrung geschieht, gegen ein vorgängiges Mit­einanderleben-Können. Dieses fühlende Wissen oder Bewusstsein ist geschichtlich nur grob zu datieren. Aber als die Menschen begannen, ihre Verstorbenen zu bestatten (homo neandertalensis), müssen sie spätestens die Fähigkeit erlangt haben, sich als von anderen Lebewesen qualitativ unterschieden zu erkennen. Diese Grundlage menschlichen Lebens kommt in der selbstverständlichen Orientie­rung pro Leben zum Vorschein. Ich komme darauf weiter unten zurück. – Vorher möchte ich wenigstens kurz darauf aufmerksam machen, dass die weiteren Verbote und Gebote des Dekalogs ebenfalls nicht universal gemeint sind und gelten können. 4. Die „Tafeln vom Sinai“ menschheitliche Gesetzespflicht? G. Heinsohn spricht insgesamt von der Verbindlichkeit der „Tafeln vom Sinai“, also des mosaischen Gesetzes; in der Menschenrechtskonvention 1948 seien die „Tafeln“ an­genommen und der Welt zur Pflicht gemacht worden. Nimmt G. Heinsohn das „5. Ge­bot“ als pars pro toto oder fasst er die „Tafeln vom Sinai“ als literarische Figur für das Verbot des Völkermords? Wozu dann diese Emphase? Der wissenschaftlichen Digni­tät tut das eher Abbruch. Mit der politisch-moralischen Errungenschaft der UNO-Kon­vention ist doch nicht die „ganze Welt auf das umfassende Tötungsverbot verpflichtet“ worden. Die Konvention will, dass Völkermord und Verletzung der Menschenrechte auf der ganzen Welt geahndet und hoffentlich durch diese Absicht eingeschränkt oder verhindert werden. Nur in Tötungsbereitschaft kann die UNO sich mit ihren Truppen gegen diejenigen wenden, die die Menschenrechte missachten. Jeder kennt die Pro­bleme der letzten Jahre. An die Diskussion der Grünen-Pazifisten, die strenger sind als das Verbot des Dekalogs, will ich nur erinnern. Und was ist mit den übrigen Ge- bzw. Verboten: Monotheismus, Sabbatheiligung, Ahndung des Ehebruchs, und was ist mit den vielen Gesetzen der Dekalogauslegung? Sollen sie auch universal gelten? Lev (3. Buch Mose) 20, 9 - 13: „Wer Vater und Mutter grob beleidigt, soll den Tod er­leiden! Weil er Vater und Mutter grob beleidigt, bleibt seine Blutschuld auf ihm. Buhlt ein Mann mit eines anderen Mannes Weib, buhlt ein Mann mit seines Nächsten Weib, so leide der Ehebrecher und die Ehebrecherin den Tod! Liegt jemand bei dem Weibe seines Vaters, hat er des Vaters Blöße enthüllt, so sollen beide den Tod leiden, und ihre Blutschuld bleibt bei ihnen. Liegt jemand bei der eigenen Schwiegertochter, so sollen beide den Tod leiden. Sie haben eine schwere Schandtat ausgeübt, und ihre Blutschuld bleibt bei ihnen. Liegt jemand bei einem Manne, wie man bei einem Weibe liegt, so haben beide eine Greueltat getan. Den Tod sollen sie leiden, und ihre Blut­schuld bleibt bei ihnen!“ 5. Rationale Ethik und Leben als Haltung Was ist zu tun für universales Lebenlassen und Nichttöten? Hier sollen Antworten aus philosophisch-pädagogischer Reflexion skizziert werden; die notwendigen politischen und rechtlichen Maßnahmen bleiben hier außer Betracht. Zurück zum Glauben, Moral und Ethik gehörten zu einem Credo? Es bleibt in G. Hein­sohns Beitrag undeutlich, ob er diesen Rückruf will und vornimmt. „Fast könnte es scheinen, als hätte eine unsichtbare Macht ihre Hand gerade lange genug über die beiden jüdischen Flüchtlinge gehalten, um ihr Gesetzgebungswerk abzuschließen“, sagt G. Heinsohn bezüglich der Menschenrechtsbemühungen von Raphael Lemkin und René Samuel Cassin (27). In Auseinandersetzung mit einer Äußerung von Hans Magnus Enzensberger, hinter Menschenrechtsbemühungen von Juden und Christen stünde deren Gott, der durch „Allgewalt, ja Allmacht gekennzeichnet“ sei, sagt Hein­sohn: „So ist es in der Tat. Das universale Tötungsverbot war in der Tat nur religiös zu schöpfen, und das Judentum hat für diese ‘Erfindung’ schwer büßen müssen“ (27). Ist dieser Satz ein Glaubenszeugnis? Dann stünde G. Heinsohn auf verlorenem Posten. Alle intellektuell redliche Religionswissenschaft und Theologie muss angesichts der vielen einschlägigen einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu der Einsicht kommen, dass Moral und Ethik eine Sache der kulturellen Evolution sind. Natürlich steht es jedem frei, hinter allem „eine unsichtbare Macht“ zu glauben, aber damit braucht er nicht der Auffassung zu widersprechen, dass „die Macht“ die Menschen ihrer eigenen Bestimmung überlassen hat. Zu erwähnen ist hier, dass die Bewegungen der Rejudaisierung, Rechristianisierung und Reislamisierung in ihren politischen Ausein­andersetzungen vor Mord (oder legitimiertem Töten?) nicht zurückschrecken. Wenn der zitierte Satz kein Glaubenszeugnis sein will, was kann er philosophisch und wissenschaftlich bedeuten? Wenn „in der Tat“ eine Tatsachenbehauptung meint, kann es philosophisch und religionswissenschaftlich nur heißen, dass Menschen in Religio­nen zu Auffassungen gelangen, die auch rational erreichbar sind. Wissenschaftlich kann man durchaus feststellen, dass es des religiösen Bewusstseins bedurfte oder die­ses dazu beigetragen hat, dass Menschen – von Herrschaft sich nicht blenden lassend – erkannten, welche Menschenmöglichkeit Lieben und Lebenlassen ist. [Dass die Ju­den für das Liebesgebot und das Mordverbot gebüßt hätten, halte ich allerdings für eine arge Vereinfachung des Antisemitismus.] Die genannte Menschenmöglichkeit ist keine „Erfindung“, sondern eine Bewusstwerdung als Entdeckung. Auch säkulares Denken kann zu dieser Entdeckung gelangen. Ich komme hier auf die oben angesprochene, anthropologisch begründete Grund­haltung zurück. Wenn ein Tötungsverbot sinnvoll sein soll, welchen Umfangs auch immer, dann muss es befolgbar sein. Es muss ihm ein Können vorhergehen, und dieses Können ist wiederzuentdecken, jedenfalls herauszustellen, als Neuorientierung nach Auschwitz. Diese Orientierung bewahrt auch vor Gesetzesgehorsam, Heteronomie und Legalismus. Vor dem Gesetz (ante) liegt nicht Töten als „natürliches Stammesgebaren“ oder gar als individuelles Verhalten, sondern eben ein Können. Menschen sind keine Naturwesen, die einem Tötungszwang unterlägen oder ein natürliches Tötungsrecht hätten. Natur gibt keine Rechte. Wie hätte die Gattung Mensch überleben können, wenn die einzelnen Menschen aus einer „Willkür der Natur“ drauflosgetötet hätten. Lieben – hier nicht allein im affektiven Sinn, sondern schlicht als Lebensbejahung, hat eine Priorität vor Macht und Gewalt. Dass Menschen lieben können, zeichnet sie als Lebewesen eher aus, als dass sie Macht ausüben können. Zwar ist auch die Macht der Menschen kein Naturereignis, sondern Kulturgut, aber im freien Seinlassenkönnen ist der Mensch qualitativ mehr vom natürlichen Leben unterschieden als im Sich-Ermäch­tigen. Lieben ist die vornehme Menschenmöglichkeit, die die Gattung bisher hat über­leben lassen. Darauf aufmerksam zu machen, sehe ich als Neuorientierung nach Ausch­witz. Insofern bin ich „Mitstreiter“, die G. Heinsohn sucht. Das Jasagen als Sein­lassen hat auch ein logisches Prius, insofern es ein Wesen sein und leben lässt, was es ist, statt sich seiner zu bemächtigen. Da auch die Macht und politische Herrschaft kul­turelle Beziehungsformen sind, sie von Kultur aus zum menschlichen Leben gehören, bedeutet Priorität des Liebens als Lebensbejahung auch, verantwortlich mit Macht um­gehen zu können. Im Sinne dieser Neuorientierung habe ich den Versuch einer Theorie der Lebenskunst gemacht, der sich als dritter Weg neben normativer Ethik und Wertethik versteht9. Der Hauptstrang gegenwärtiger Moralphilosophie ist normative Ethik, die Bemühungen darum, universale Normen zu begründen. Eine solche universale Norm ist die Unan­tastbarkeit des menschlichen Lebens. Solche Begründungen auf rationalem Wege sind schwierig, aber nicht unmöglich. Mit der anthropologisch begründeten Grundhal­tung habe ich einen Weg angedeutet. Als noch schwieriger erweist sich aber die politi­sche Kon­sensfindung, wie wir es derzeit in den Diskussionen um Hirntod, Sterbehilfe und um das Sterbenlassen schwerstbehinderter Kinder vor oder nach der Geburt erle­ben. Für die notwendigen Gesetze wird es jeweils einer Mehrheitsentscheidung bedür­fen. Mit ihr aber ist die Haltung des einzelnen noch nicht entschieden. Wenn solche Taten straffrei bleiben, heißt das nicht, dass die einzelnen sie tun sollen. In werttheoretischen Ansätzen geht es um konsensuelle Begründung von obersten Bewertungswerten als Entscheidungshilfen in moralischen Urteilen und damit für Standpunkte in der politischen Diskussion und Entscheidung. Der von mir vorgeschlagene dritte Weg greift mit der Frage, wie jemand sein Leben gut machen kann, die Tugendtradition auf und weist auf Haltungen hin, in denen ein Leben gut gelingen kann. In Haltungen können die einzelnen Menschen für sich und ihr soziales Leben die Menschenmöglichkeit des Liebens und Lebenlassens verwirkli­chen. Weder für die ethische Begründung moralisch relevanter Gesetze, noch für die gesellschaftliche und individuelle Moral reicht Gesetzesgehorsam aus. Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt? In der geschichtlichen Situation heute, in der religiöse Be­gründung aus angenommener Offenbarung nicht mehr verallgemeinerbar ist, aber auch ein allgemeines Gewissen als innere Vernunftgesetzgebung nicht mehr voraus­gesetzt werden kann, kommt es darauf an, die Einzelnen das Ausmaß ihrer Selbstbe­stimmung zur sittlichen Qualität der Lebensführung erkennen zu lassen, und ihnen deutlich zu machen, dass es auf ihre Haltung ankommt. Im hier diskutierten Kontext heißt das, aufzuweisen, wie jemand die Haltung der Lebensbejahung und des Leben­lassens einnehmen kann.